Dienstag, 5. Juli 2016

Riech mal was da spricht

Unabhängig und selbstverantwortlich entscheiden zu können, welche Nahrung für mich gesund und gut ist, das ist lange her. Denn ich rieche nichts mehr in unserer europäisch durchstandardisierten Welt. Es ist schon seit langem so, dass man mir die Fähigkeit entzogen hat, die Qualität meines Futters bewerten zu können: alles ist geruchsdicht verpackt.

Über die Genießbarkeit darf meine Nase und mein Tastsinn vor dem Kauf nicht mehr entscheiden, wenn ich vor den Discounterregalen spazieren gehe und mich ausschließlich die aufgedruckten Verfallsdaten und die lange Liste der Zutaten, Zusatzstoffe und deren Konzentrationen im Einzelnen und in Summe betrachtet informieren. Ich muss meinen rationalen Zahlengenerator der linken Gehirnhälfte beschäftigen und analysieren lassen, ob ich das jetzt essen soll. Schon bin ich verwirrt, durcheinander und von den Emotionen zur vor mir liegenden Nahrung entkoppelt.

Geschmackserinnerung kommt nur, wenn der Geruchssinn voranmarschiert, also soll ich das jetzt essen? Das Verfallsdatum ist ok, die Zutaten sind sicher nach EU Richtlinien standardisiert, die Verpackung absolut hygienesicher, Mahlzeit, das muss ja schmecken, ganz klar!
Ein Halbidiot, wer sich das einreden kann. Na gut mit etwas Übung geht das auch, dass man sich dann noch auf das Essen „freut“… Unser Immunsystem muss riechen können, damit es seine Aufgaben erledigen kann: es ist mit anderen Worten in der technischen Zivilisation komplett unterbeschäftigt. Quasi Trainingsverbot, wie soll es da richtig funktionieren bitte? Wie soll es da Entscheidungen treffen können zwischen dem Guten und dem Schlechten? Es wird von der Vernunft ausgehebelt und liest dann lieber in den einschlägigen Gesundheitsfeuilletons nach, was es tun soll. Entmündigt, ohne Selbstverantwortung, eigentlich allein gelassen.

Draußen auf der Straße riecht auch sonst nichts mehr, die Welt ist geruchsneutral geworden. Und wenn mal ein Geruch durchkommt, ist man geneigt zur Beschwerde zu greifen, es bricht sofort Einordnungsstress aus: Geruch darf´s doch gar nicht mehr geben.
In meinem Dorf ist das anders: da trainieren wir das Immunsystem gehörig! Gerüche sind wie Schnellzüge in die Vergangenheit. Sie lösen sofort Bilder, Stories und Filme in uns aus. Wissen sie noch, wie das Leder des alten Schulranzens in der Julisonne auf dem Schulhof gerochen hat? Oder die Tinte, insbesondere, wenn sie auf der Schulbank verschüttet wurde, auf der noch die Leberwurst-brotreste vom Vortag klebten? Oder wie war das als wir den Milchladen betraten und dieses Geruchsgemisch aus Frischkäse, Molke und fetter frischer Kuhmilch in uns aufnahmen? Die Liste wird endlos, wenn ich hier weitermache, bitte ergänzen Sie selbst…Aber waren es nicht jedes Mal tiefgehende und wohltuende Gefühle, wenn wir die Dinge um uns herum riechen konnten? Sie gaben Sicherheit und Orientierung.

Wundern wir uns jetzt noch, wenn ältere Menschen, die als unvermeidbarem Bestandteil des Alterns verstärkt auf äußeren Sicherheit und Orientierung über Gut und Schlecht gebenden sensorischen Input angewiesen sind, wenn die dann immer unsicherer und orientierungsloser werden?
Selbst Gestank ist wichtig: als Warnung „Achtung schlecht“. Es gibt woanders Welten wo das funktioniert, aber die setzen wir mit elend und Armut gleich, stimmt ja auch, aber trotzdem berauben wir uns aktiv unserer Sinne und Sinnlichkeit. Die neuen Medikamente gegen Alzheimer werden es schon irgendwann richten!

Alles was riecht kann zu uns sprechen, mit uns in eine Kommunikation treten, selbst die „tote“ Umwelt, und damit für uns sicher werden: der Granit in der Augustsonne riecht, Sand und Meer, die Kleider der anderen, unbeschriebenes Papier aus der alten Manufaktur.
Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass die Zunahme unserer Nahrungsmenge und damit unseres Gewichtes korreliert mit der Abnahme der Gerüche? Wir sind ganz wild auf endlich Riechendes, wenn es uns als Gericht gereicht wird: lecker, mehr davon, bloß weil endlich mal was riecht. Annahme: weil wir nichts mehr riechen dürfen, stürzen wir uns auf Riechendes: das Essen ist das fast das einzige was bleibt.

Ich gebe zu: diese Annahme muss noch einmal kritisch überprüft werden. Trotzdem will ich dasjenige Dorf, welches meine Geruchssinnlichkeit in Atem hält.

Facebook Dr. Uwe Klein

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